Sonntag, 12. Juli 2015

Ameisenkribbeln - Durch Chemotherapie verursachte Polyneuropathien (PNP)

(nach einem Vortrag von PD Dr. Helmar Lehmann, Uniklinik Köln)

Etwa 30% aller Krebspatienten, die eine Chemotherapie erhalten, entwickeln eine sog. Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (PNP), also eine Nervenschädigung als Nebenwirkung der Chemotherapie.

Diese Art der Nervenschädigung ist für viele Therapien der Dosis-limitierende Faktor, der einer optimalen Behandlung von Krebstherapien entgegensteht. Das heißt, dass die Chemotherapie aufgrund dieser Nebenwirkung nicht in der vollen Dosis und den vorgesehen Zeitintervallen verabreicht werden kann.

Die Polyneuropathie beeinträchtigt die Lebensqualität von Krebspatienten weiterhin, auch wenn die zugrunde liegende Krebserkrankung geheilt ist. Sie führt zu sensiblen (die Nerven betreffenden) und motorischen (die Muskulatur und Bewegung betreffenden) Einschränkungen.

Wie schädigen Chemotherapien die Nervenfasern ? 
Verschiedene Chemotherapien können die Nervenzellen angreifen.
Taxane, z.B. das Paclitaxel, greifen Strukturen innerhalb der Nervenfortsätze an, andere Substanzen, wie z.B. das Vincristin, greifen bestimmte Zellorganellen in den Nervenzellen an. Wieder andere Substanzen können die „Kabelisolierung“ der Nervenzellen angreifen, z.B. das Bortezomib.

Die meisten Substanzen haben sogar verschiedene Angriffspunkte an der Nervenzelle. Bortezomib z.B. greift sowohl die Mikrotubuli (ein Teil des Zellskeletts) an, die Zellorganellen und auch die „Kabelisolierung“. Das macht es so schwierig, Substanzen zu entwickeln, um eine Polyneuropathie zu verhindern. Es spielen viele verschiedene Mechanismen eine Rolle.

Nicht jede Substanz ruft eine PNP hervor, aber es gibt ganz typische Konstellationen.

Cisplatin, z.B. ist eine alte Substanz, die dosisabhängig eine PNP hervorruft. Bei mehr als 500 mg pro qm Körperoberfläche entwickelt sich in mehr als 90% der Fälle eine PNP. Beim Cisplatin gibt es eine Besonderheit, das sog. Coasting-Phänomen: Während sich die PNP-Symptome normalerweise nach Pausieren der Chemotherapie über einen Zeitraum von Wochen und Monaten bessern, kann es beim Cisplatin passieren, dass die PNP nach Unterbrechung der Therapie weiter zunimmt. 
Beim Bortezomib, das vor allem bei Patienten mit Multiplem Myelom eingesetzt wird, findet sich in ca. 30% der Fällen eine schmerzhafte PNP, weniger häufig nach s.c.-Gabe (Bauchspritze und nicht über die Vene oder den Port).
Vincristin ist auch eine alte Substanz und löst sehr häufig eine PNP aus.
Beim Taxan Paclitaxel, gibt es unterschiedliche Formulierungen (siehe meine letzten Blogbeiträge). Sowohl Paclitaxel als auch nab-Paclitaxel (Abraxane) können eine PNP auslösen. Beim nab-Paclitaxel ist diese aber schneller reversibel, d.h. sie bessert sich schneller nach der Chemotherapie. Das hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass die Trägersubstanz beim Paclitaxel, das Cremophor, selbst ebenfalls eine PNP auslösen kann.

Wie äußert sich eine Polyneuropathie ?

Ein häufiges Symptom ist Taubheitsgefühl  (Ameisenlaufen) und dieses hat ein ganz typisches Verteilungsmuster, nämlich vor allem im Bereich der Hände und Füße.
Das zweithäufigste Symptom sind Schmerzen. Patienten berichten, dass Berührungen, die normalerweise als nicht unangenehm empfunden werden, auf einmal extrem schmerzhaft sind. Z.B. die Bettdecke kann nicht mehr ertragen werden. Patienten können nur noch in einer bestimmten Position schlafen. Der Fachbegriff dafür ist Allodynie.
Weitere Symptome der PNP sind Lähmungen der Fußmuskulatur oder eine Änderung der Schweißsekretion. 
Bei chronischen Polyneuropathien kann es zu Fußdeformitäten kommen, im Verlauf kann eine Gangunsicherheit auftreten. Die Patienten sollen gezielt auf diese Symptome angesprochen werden. Auffallend ist z.B., wenn sie zum Gehen plötzlich einen Stock benötigen.

Die meisten Chemotherapie-induzierten PNPs sind sensible PNPs, keine motorischen PNPs. Motorische PNPs können sich erst im Verlauf entwickeln.
Wenn ein Patient Symptome entwickelt, sind es in den allermeisten Fällen sensible Beschwerden.

Warum beginnt eine PNP immer im Bereich der Füße und greift dann auf die Hände über ?

Dies kann man sehr gut durch die Anatomie erklären. Die peripheren Nerven im Bereich der Hände und Füße sterben als erstes ab. 
Warum ist das so ? Beim Menschen liegt der 10 µm lange Zellkern der peripheren Nervenzelle im Bereich des Rückenmarks. Der Nervenfortsatz hingegen kann bis zu einem Meter (!) lang werden.
Es gibt also einen extrem langen Nervenfortsatz, der viel Angriffsfläche bietet und deshalb als erstes abstirbt. Im Bereich des Rückenmarks werden alle Nährstoffe produziert, alle Wachstumsfaktoren und diese müssen über den ganzen langen Weg transportiert werden. So wird klar, wieso Beschwerden immer im Bereich der Füße zuerst auftreten. 




Quellen:
  • del Pino, 2010
  • Kannarkat et al.

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